Mehrsprachigkeit: Das Lernen von Lauten & Worten

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Meine Kinder wachsen mehrsprachig auf: Ich kommuniziere auf Deutsch mit ihnen, ihr Papa auf Griechisch. Zusätzlich bekommen sie auch noch Englisch zu hören, da dies die gemeinsame Sprache von mir und meinem Mann ist. Müssen wir angesichts dieser Vielfalt erwarten, dass sie später als einsprachig aufwachsende Kinder zu reden beginnen?

Unsere drei Kinder sagen dazu eindeutig “Nein!”: Sie sind alle der sprichwörtliche Wasserfall und reden äußerst eloquent von meist viel zu früh morgens bis oft viel zu spät abends.  Aber sind sie damit eine Ausnahme oder liegen sie doch in der Norm?

Um eine Sprache zu erwerben, müssen Kinder alle Komponenten derselben meistern: ihre Laute, ihre Sprachmelodie, die Wörter, den Satzbau und natürlich die Bedeutung von den einzelnen Bestandteilen sowie deren Kombinationen. Sie tun dies indem sie von Beginn an eifrig lauschen und nach und nach ihre Schlussfolgerungen ziehen, die es ihnen schließlich ermöglichen, erfolgreich und korrekt zu kommunizieren. Mehrsprachig aufwachsende Kinder haben jetzt aber vergleichsweise weniger Informationen je Sprache zur Verfügung als Kinder, die immer nur einer einzigen Sprache ausgesetzt sind. Es wäre daher naheliegend anzunehmen, dass der Spracherwerb langsamer vonstatten geht.

Kein Nachteil für mehrsprachige Kinder

In seiner Dissertation von 2013 hat sich Liquan Liu genau dieser Frage gewidmet. Sein Interesse galt in erster Linie dem Erwerb von Lauten und Worten. In 5 verschiedenen Studien vergleicht er den Erwerbsverlauf von ein- und zweisprachigen Babies und Kleinkindern in Hinsicht. Konkret konzentrieren sich die Studien auf Konsonantenwahrnehmung, Vokalwahrnehmung, Tonwahrnehmung und dem Erlernen von neuen Wörtern. Er beschäftigt sich also in erster Linie mit dem Beginn des Spracherwerbes. Um die Summe des Ergebnisses gleich vorwegzunehmen: Es lies sich aus seinen Untersuchungen keinerlei Nachteil für die mehrsprachigen Kinder ableiten. Manche Aufgaben meisterten sie etwas später als einsprachige Kinder, andere dafür aber etwas früher. Dies führte insgesamt zu einem Ausgleich und einem Spracherwerbsverlauf, der dem von einsprachigen Kindern gleicht und alle Meilensteine während der selben Phasen erreicht werden. Ein Ergebnis, zu dem im Übrigen auch etliche andere Studien bereits gekommen sind (z.B. Oller et al. 1997, Holowka et al. 2002, Byers-Heinlein et al. 2010).

Nehmen wir einmal die Worterwerbsstudie her: Was heißt es überhaupt, ein Wort zu erlernen? Das Kind muss einen Zusammenhang zwischen einer bestimmten Abfolge von Lauten und einem Objekt, einem Konzept oder einer Handlung herstellen. Also beispielsweise die Abfolge von B+A+L mit dem Objekt Ball in Zusammenhang bringen. Schon relativ früh, zwischen 4,5 und 6 Monaten, können Babies bestimmte hochfrequente Worte, wie zum Beispiel ihren Namen, erkennen. Und wenn sie erst einmal das Lautsystem ihrer Muttersprache gelernt haben, so rund um 18 Monate herum, dann kommt es zur sogenannten Lexikonexplosion, d.h. sie lernen in sehr kurzer Zeit sehr viele Wörter und deren Bedeutung. Mehrsprachige Kinder müssen diesen Prozess je Sprache durchlaufen und Assoziationen doppelt (oder öfter, je nachdem, wie vielen Sprachen sie ausgesetzt sind) herstellen.

Die Worterwerbsstudie

Man könnte jetzt erwarten, dass zweisprachig aufwachsende Kinder zum Zeitpunkt X insgesamt weniger Wörter als einsprachig aufwachsende Kinder beherrschen. Immerhin musste Kängurukind #1 etwa lernen, dass man zu einem Apfel ‚Apfel‘ sagen kann, aber auch ‚milo‘. Eine von Liquan Liu durchgeführte Fragebogenstudie ergab aber genau das Gegenteil: zweisprachig aufwachsende Kinder, die alle Niederländisch und noch eine andere zweite Elternsprache hatten, hatten insgesamt mehr einzelne Wörter, die sie verstanden, als nur mit Niederländisch aufwachsende Kinder. Im Falle meiner Tochter hieße das übrigens, dass sowohl ‚Apfel‘ als auch ‚milo‘ in der Studie als verstandenes Wort gezählt worden wäre.

Die Studie verglich aber auch die Anzahl der Wörter, die die Kinder produzieren konnten, d.h. Wörter, die sie nicht nur verstanden, sondern auch tatsächlich aktiv verwendeten. Hier ergab sich, dass die ein- und zweisprachig aufwachsenden Kinder das gleiche Tempo im Worterwerb an den Tag zu legen scheinen. Beide hatten insgesamt in etwa die gleiche Anzahl an aktiven Worten gemeistert. Und noch wichtiger: sie konnten auch beide eine ähnliche Anzahl an Dingen benennen, unabhängig der Sprache, die verwendet wurde.

Eine Besonderheit dieser Studie ist, dass die Antworten – es wurde eine standardisierte Version eines weltweit verwendeten Fragebogens verwendet – nicht nur von einem Elternteil gegeben wurden, sondern dass beide gemeinsam die Angaben zu den Sprachkenntnissen ihrer Kinder machten. Damit war ein Kontrollmechanismus mit eingebaut, der die Daten zuverlässiger machte.  Es wurden dabei übrigens drei Altersgruppen untersucht: 11-12 Monate, 14-15 Monate und 17-18 Monate, also Kinder direkt auf dem Weg zur Lexikonexplosion. Wer sich die genauen Zahlen anschauen möchte, findet sie auf Seite 127 von Liquan Liu (2013), The Effects of Bilingualism on Infant Language Development: The Acquisition of Sounds and Words.

Was heißt das nun konkret für mehrsprachige Familien?

Heißt das jetzt, dass mehrsprachiger Erwerb immer problemlos vonstatten geht? Pauschal kann man das so sicher nicht bejahen. Erstens waren an der Studie nur insgesamt 213 Kinder beteiligt, aufgeteilt auf 3 Altersgruppen sowie mono- und bilinguale Kinder. Das ist zwar gesamt eine gute Zahl für eine derartige Studie, aber es lässt dennoch nur bedingt Rückschlüsse auf die Mehrheit der Kinder schließen. Außerdem darf man nicht vergessen, dass jede Familie einzigartig ist und der erfolgreiche mehrsprachige Erwerb nicht nur von der Menge des Inputs abhängt, sondern auch davon, wie die Mehrsprachigkeit konkret zuhause gelebt wird. Was diese Studie aber zeigt, ist, dass unter guten Bedingungen keine Verzögerungen zu erwarten sind. Und falls es doch Verzögerungen zu geben scheint, müssen diese nicht notwendigerweise mit der Mehrsprachigkeit zu tun. Literatur
Byers-Heinlein, K., Burns, T.C., & Werker, J.F. (2010). The roots of bilingualism in newborns. Psychological Science, 21(3), 343-348.
Holowka, S., Brosseau-Lapré, F., & Petitto, L. A. (2002). Semantic and conceptual knowledge underlying bilingual babies’ first signs and words. Language Learning, 52(2), 205-262.
Liquan Liu (2013), The Effects of Bilingualism on Infant Language Development: The Acquisition of Sounds and Words. http://www.lotpublications.nl/Documents/346_fulltext.pdf
Oller, D., Kimbrough, E., Rebecca, E., Urbano, R., & Cobo-Lewis, A. U. (1997). Development of precursors to speech in infants exposed to two languages. Journal of child language, 24, 407-426.

3 Kommentare

  1. Veröffentlicht von Importkaaskop am 3. Juli 2015 um 12:25

    Schön hast du das zusammengefasst! Finde ich besonders interessant, weil mein kleiner Kaaskop an genau dieser Studie auch teilgenommen hat (er wächst mit Deutsch und Niederländisch auf). Er saß dabei immer auf meinem Schoß und ich musste Kopfhörer aufsetzten, damit ich nicht mithören und ihn unbewusst beeinflussen kann. Netter Mann, Liquan Liu!
    Ich finde dieses oft gehörte Vorurteil, mehrsprachig aufwachsende Kinder würden später anfangen zu sprechen, immer sehr nervig. Sprechenlernen ist doch wie alles bei Kindern: jedes Kind hat sein eigenes Tempo.
    Viele Grüße aus Holland!
    Kristine

    • Veröffentlicht von Kängurukinder am 3. Juli 2015 um 12:34

      Sehr cool, dass ihr da mitgemacht habt. Wurdet ihr über die Ergebnisse informiert?

      • Veröffentlicht von Importkaaskop am 3. Juli 2015 um 12:46

        Ich glaube ja… Wir haben jedenfalls regelmäßig Newsletter vom BabyLab bekommen. Eigentlich wollte ich im Dezember noch darüber bloggen, aber das ist im Weihnachts- und Umzugstrubel untergegangen. Es scheint jedenfalls, dass zweisprachige Babies auch Geigentöne besser auseinanderhalten können als einsprachige…



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