3 Gründe, ein Kind nicht mehrsprachig aufwachsen zu lassen

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

Heute zäumen wir das Pferd mal von hinten auf. Schauen wir uns Gründe an, warum Familiensprachen nicht an Kinder weitergegeben werden und stellen die Frage: Sind das die richtigen Gründe, um Kindern mehrsprachiges Aufwachsen nicht zu ermöglichen?

Erstens: Mehrsprachiges Aufwachsen überfordert das Kind

Die Angst, die dahinter steckt: das Kind könnte dann vielleicht keine Sprache richtig sprechen oder hätte einen Akzent in der Umgebungssprache oder würde womöglich auch noch in anderen Bereichen hinterher hinken.

Fakt ist: Solange einige Grundregeln beachtet werden und die Sprachen nicht permanent kreuz und quer gemischt werden, hat eine Angst vor Überforderung keinerlei wissenschaftliche Grundlage. Ganz im Gegenteil. Es gibt sogar viel Forschung in eine ganz andere Richtung.

Die Tatsache, dass das Gehirn nämlich parallel mehr als eine Sprache verarbeitet, dass mehrsprachige Menschen mühelos von einer zur anderen wechseln und dass sie ihre Sprachen immer sehr gezielt anwenden können, gab schon vor Jahrzehnten Anlass zur Frage: wenn das Gehirn mehrsprachiger Menschen bei Sprache so genial agieren kann, kann es diese kognitven Fähigkeiten, die es dafür braucht, dann auch in anderen Bereichen nutzen?

Die kognitve Unterdrückung einer Sprache

Beispielsweise wissen wir mittlerweile, dass bei mehrsprachigen Menschen, wenn sie sprechen, immer alle Sprachen im Gehirn aktiviert sind. Die, die nicht verwendet werden, werden vom Gehirn aktiv unterdrückt. Inhibitory Control heißt das in der Fachsprache.

Diese Fähigkeit verwenden grundsätzlich alle Menschen, auch einsprachige. Und zwar immer dann, wenn wir einen Impuls oder eine automatische Reaktion unterdrücken, fällt das unter Inhibitory Control. Manchmal möchten wir beispielsweise schreien, tun es aber nicht, sondern gehen weg oder bleiben leise oder atmen 3 mal tief ein und aus. Inhibitory control ist eine wichtige menschliche Fähigkeit.

Da mehrsprachige Menschen diese Fähigkeit ganz viel tagtäglich automatisch anwenden, liegt die Frage nahe, ob Mehrsprachigkeit zu einer generell ausgeprägeteren Impulskontrolle führt. Tatsächlich gibt es Untersuchungen, die genau in diese Richtung deuten. (Ausgewählte Referenzen dazu findest du am Ende des Artikels.)

Der Vollständigkeit halber muss ich an dieser Stelle auch sagen, dass die Forschungsergebnisse zur Frage von allgemeinen kognitven Vorteilen mehrsprachigen Aufwachsens auseinander gehen. Manche Ergebnisse deuten darauf hin, dass es klare Vorteile gibt. Andere wiederum kommen zu keinem wesentlichen Unterschied im Vergleich zu einsprachigem Aufwachsen.

Mehrsprachiges Aufwachsen als Vorteil für Kinder im Autismus-Spektrum

Besonders spannend ist aber die Tatsache, dass selbst bei Kindern, die klare kognitive Herausforderungen haben, Mehrsprachigkeit zu keinem Nachteil führt. Ganz im Gegenteil, wie Dr. Shareen Sharaan in ihrer Forschungsarbeit zu Mehrsprachigkeit bei Kindern im Autismus-Spektrum herausgefunden hat.

Die Quintessenz ihrer Arbeit: Kinder im Spektrum, die mit zwei Sprachen aufwachsen, haben nicht nur keine Nachteile gegenüber einsprachigen Kindern im Spektrum, sondern sogar allgemein kognitive Vorteile im Vergleich zu einsprachig aufwachsenden Kindern im Spektrum. (Referenz wieder unten zu finden) Mehr erzählt sie darüber persönlich in diesem Podcast-Gespräch.

Noch mal: mehrsprachiges Aufwachsen hat bei Kindern im Autismus-Spektrum Vorteile ergeben, die sich in anderen, nicht-sprachlichen Domänen gezeigt haben. Das ist schon sehr beachtlich.

Fazit: mehrsprachiges Aufwachsen überfordert nicht

Mehrsprachiges Aufwachsen überfordert Kinder also keinesfalls. Sie kommen auf die Welt mit einem überlebenswichtigen Instinkt nach Verbindung. Und bei uns Menschen spielt Sprache dabei eben eine ganz wesentliche Rolle.

Deshalb sind schon Neugeborene darauf gepolt, alle Sprachen, die in ihrem Umfeld eine Rolle spielen entsprechend zu verarbeiten und abzuspeichern. Immerhin beginnt der Spracherwerb ja auch bereits im Mutterleib, wie ich an dieser Stelle schon einmal ausgeführt habe.

Ein Kind nicht mehrsprachig aufwachsen zu lassen aus Angst, es zu überfordern oder aus Sorge über einen möglichen Nachteil in der Umgebungssprache, ist also nicht nur nicht gerechtfertigt, sondern nimmt dem Kind auch eine ganz einfache Möglichkeit, die kognitive Entwicklung zusätzlich zu unterstützen und zu fördern.

Und übrigens: Um die Umgebungs- und somit spätere Schulsprache braucht man sich vor allem dann nie Gedanken machen, wenn ein Elternteil, Großeltern und andere Verwandte diese sowieso mit dem Kind sprechen. Diese Sprache wird für das Kind spätestens mit Eintritt in den Kindergarten dominant werden und die anderen Familiensprachen müssen dann besonders im Auge (und im Ohr) behalten werden.

Zweitens: Die Sprache verschafft dem Kind einen Nachteil

Dieses Argument kommt gerne bei Sprachen, die entweder nicht von vielen Menschen gesprochen werden oder die grundsätzlich einen schlechten Ruf haben. In unseren Breitengraden fallen da Sprachen wie Türkisch, Arabisch oder aktuell besonders auch Russisch darunter.

Wem allerdings tun wir einen Gefallen, wenn wir so eine Sprache nicht weitergeben?

Wir nehmen den Kindern einen wesentlichen Zugang zu einem essentiellen Teil ihrer Identität, verwehren ihnen unter Umständen sogar die Möglichkeit, mit einem Teil ihrer Verwandtschaft kommunizieren zu können und wir schüren die Vorurteile gegenüber den Sprachen noch mehr. Denn auch eine Sprache nicht weiterzugeben ist ein Statement.

Ein Kind nicht mehrsprachig aufwachsen zu lassen, weil die zweite Sprache einen schlechten Ruf hat, ist eine stumme Akzeptanz, ein Zustimmen der Abwertung eines essentiellen Teiles einer ganzen Kultur.

Mehrsprachiges Aufwachsen mit besonderer Begleitung

Viel wichtiger ist es, diese Kinder entsprechend zu begleiten, so dass sie selbst den Wert und die Bereicherung ihrer Sprache kennen und schätzen lernen. Dass sie stolz darauf sind, ohne nationalistisch zu werden. Dass sie draußen in der Welt vorleben können, dass diese Sprachen mindestens genauso cool, wertvoll, bereichernd sind wie Englisch, Französisch oder Italienisch.

Und wenn die Sprache nur eine kleine Sprechergemeinschaft hat? Umso mehr Grund sie weiterzugeben, um sie für die Gemeinschaft am Leben zu erhalten. Erst durch die Weitergabe einer Sprache an die nächste Generation bleibt sie am Leben. Zu viele Sprachen sind bereits vom Aussterben bedroht, weil eben genau das nicht mehr stattfindet.

Denk die Nische mit

Und jeder, der sich schon mal mit Marketing beschäftigt hat, kennt den Begriff ‚Nische‘: viele sagen, je spitzer und definierter die Nische, desto besser für ein Produkt. Stell dir vor, dein Kind bewirbt sich um eine Arbeitsstelle. Was glaubst du, wie viele andere Bewerber hervorragende Kenntnisse in Englisch, Spanisch oder vielleicht sogar Französisch haben werden? Und wie viele fließend Baskisch, Kirgisisch oder Tadschikisch sprechen werden? Eben. Nische, Baby, Nische.

Drittens: Die Sprache belastet die Familienkommunikation

Das ist ein tricky Punkt. Denn klar, die Familienkommunikation ist wichtig. Jeder muss sich mit jedem unterhalten können, das darf natürlich nicht leiden. Die häufigste Herausforderung hier: der Partner oder die Partnerin versteht die Sprache nicht, die der andere gerne an das Kind weitergeben möchte.

Oft ist es dann der Fall, dass der Partner das Unterfangen zwar grundsätzlich unterstützt, aber halt nur, solange er nicht im Raum ist. Und genau da fängt das Problem.

Der ohnehin schon wenige Input wird dadurch noch mehr verringert, die grundsätzliche Unterstützung für das Kind wenig spürbar. Im Gegenteil: dem Kind wird signalisiert, vor dem Papa (oder der Mama) dürfen wir unsere Sprache nicht sprechen. Er mag das nicht. Er versteht das nicht. Und: er will das auch gar nicht verstehen.

Klingt hart? Ist es auch. Und es hat Auswirkungen auf das Kind und seine Beziehung zur Sprache.

Der Einfluss des Partners auf den Spracherwerb

Woher ich das weiß? Weil ich das Gegenteil ständig erlebe. Was möglich wird, wenn die Dynamik sich ändert und die Unterstützung auf einmal weit über eine grundsätzlich Befürwortung hinaus geht. Wenn die Sprache von allen getragen wird – egal wie viel oder wie wenig verstanden oder vielleicht selbst gesprochen wird.

Denn eines ist klar: auch Erwachsene können unglaublich viel von einer Sprache lernen, in dem sie von dieser umgeben sind, sie aktiv verfolgen und Interesse demonstrieren.

Darum spiele ich auch bei diesem Argument, dem aber-mein-Partner-versteht-meine-Sprache-ja-nicht gerne des Teufels Advokat und stelle eine vielleicht provokante, aber wichtige Frage:

Muss dein Partner denn wirklich immer alles verstehen, was du mit deinem Kind sprichst?

Warum ich mich das sagen traue? Erstens habe ich ganz lange vieles nicht verstanden, das mein Mann zu unseren Kindern gesagt hat. Er umgekehrt übrigens auch nicht. Auch heute verstehen wir noch nicht alles, aber mein Griechisch ist durch die ständige Auseinandersetzung damit viel besser geworden und sein Deutsch übrigens auch. Sogar sein Dialekt.

Zweitens weil ich Familien kenne, die das genauso handhaben. Jeder spricht seine Sprache, egal ob der andere das versteht oder nicht. Die Weitergabe an die Kinder hat einfach eine zu hohe Priorität. Zum Beispiel hat Angela Stockinger dazu im Podcast gesprochen oder Yoshito Darmon-Shimamori. Hörenswerte Folgen mit erstaunlichen Geschichten, in denen die Familienkommunikation trotzdem funktionert.

Es gibt keinen Grund gegen mehrsprachiges Aufwachsen

Fazit: Es gibt praktisch keinen objektiven Grund, eine Sprache nicht an ein Kind weiterzugeben. Seltene Ausnahmefälle können besondere Krankheiten oder besonders starke Neurodivergenzen sein, aber auch in diesen Fällen muss sorgfältig abgewogen werden. Denn wenn das Weglassen einer Sprache verhindert, dass das Kind mit primären Bezugspersonen kommunizieren kann, dann muss im Interesse des Kindes und der Familie individuell und ganzheitlich gehandelt werden.

*Ausgewählte Referenzen:

Bialystok, E., Craik, F. I. M., Grady, C., Chau, W., Ishii, R., Gunji, A., et al. (2005). Effect of bilingualism on cognitive control in the Simon task: Evidence from MEG. Neuroimage, 24, 40–49.

Bialystok, E., Craik, F. I. M., & Luk, G. (2008). Cognitive control and lexical access in younger and older bilinguals. Journal of Experimental Psychology. Learning, Memory, and Cognition, 34, 859–873.

Madrazo, Arnel & Bernardo, Allan. (2018). Measuring Two Types of Inhibitory Control in Bilinguals and Trilinguals: Is There a Trilingual Advantage?. Psychological Studies. 63. 10.1007/s12646-018-0439-9.

Keine Folge verpassen? Den Podcast abonnieren!

Verpasse keine Folge und abonniere den Podcast in deiner Lieblings-App oder auf deinem Lieblings-Kanal – erhalte die neuen Folgen so direkt auf dein Handy oder anderes Gerät:
ITunes/Apple Podcast
Spotify
Android
Google
Deezer
amazon music

Kategorie: ,

Hinterlassen Sie einen Kommentar