Mehrsprachigkeit hat viele Gesichter

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Wenn wir einen Menschen sehen, dann können wir unmöglich wissen, ob dieser Mensch mehrsprachig ist oder nicht. Wir können von seinem Aussehen auch nicht darauf schließen, welche Sprachen dieser Mensch spricht. Vielleicht ist er blond und blauäugig und spricht fließend Französisch und Kiswahili. Vielleicht hat sie schwarze Haare und braune Augen und spricht perfekt Schweizerdeutsch und Tagalog.

Wir kennen weder seine Geschichte, noch seine Herkunft, weder ihre Eltern, noch ihren Lebensweg. Wir wissen nicht, ob die Frau, die in den Niederlanden aufgewachsen ist, nicht vielleicht in Japan studiert und gelebt hat, oder ob die Eltern des Mannes aus der Ukraine nicht vielleicht aus Israel und Großbritannien stammen.

Die Vielfalt der Mehrsprachigkeit

Es gibt so viele Geschichten wie Menschen.

Ja, je früher wir eine Sprache lernen, desto positiver wirkt sich das in den meisten Fällen auf das Kompetenzlevel aus und ja, kognitiv sind die Sprachen anders angelegt, wenn wir sie früh erwerben. ABER: nichts, rein gar nichts, hindert irgendjemanden daran, auch später im Leben noch fließend in einer Sprache zu werden.

Mehr noch: auch Erwachsene können eine Sprache bis zu einem gewissen Grad erwerben, so wie Kinder das machen.

Spracherwerb und Sprache Lernen

Bei Kindern sprechen wir von Spracherwerb: das ist der Prozess, bei dem eine Sprache lediglich dadurch erlernt wird, dass diese Sprache mit den Kindern gesprochen wird. Häufig wird davon ausgegangen, dass nur Kinder die Fähigkeit haben, eine Sprache dadurch zu erlernen, dass sie sie erleben und davon umgeben sind.

Wir sprechen dabei übrigens von Immersion oder auch dem Sprachbad. Was die Kinder während dieses Prozesses alles leisten, davon habe ich hier und hier schon einmal mehr geschrieben.

Dieses Erwerben steht nun im Gegensatz zum Sprache Lernen, das wir alle aus der Schule kennen. Wir bekommen grammatikalische Regeln erklärt, lernen Vokabeln auswendig und beginnen Schritt für Schritt Sätze zu formen. Wir werden korrigiert, wenn wir Fehler machen und bessern diese bewusst immer wieder aus.

Wege zur Mehrsprachigkeit

Auch wenn das natürlich eine Möglichkeit für Erwachsene ist, eine Sprache zu lernen, so ist es nicht die einzige. Denn auch Erwachsene sind durchaus noch in der Lage eine Sprache zu erwerben.

95% meiner Griechischkenntnisse kommen zum Beispiel daher, dass ich einfach von Griechisch umgeben war. Die ersten Anfänge habe ich bei einem Praktikum auf Kreta gemacht, wo ich täglich mit Menschen unterwegs war, die nur Griechisch konnten.

Durch meinen Mann und unsere Kinder ist Griechisch jetzt schon seit über 9 Jahren Bestandteil meines Alltags. Heute kann ich ganz passable Konversationen führen, ohne auch nur ein einziges Mal an einem Kurs teilgenommen zu haben.

Klar, man hört – wie meine Töchter gerne betonen – sofort, dass ich nicht mit Griechisch aufgewachsen bin, dass es also nicht meine Muttersprache* ist. Aber was ist dieses Muttersprachlevel überhaupt, von dem immer gesprochen wird?

Muttersprache

Im Endeffekt geht es dabei darum, in einer Gruppe von Sprecher:innen nicht aufzufallen,  als eine:r von ihnen wahrgenommen zu werden.

‚Muttersprache‘ ist also ein Begriff, den wir verwenden, wenn wir sagen wollen: Das ist jemand, der eine Sprache genau so spricht, wie die Mehrheit der Sprecher, die mit dieser Sprache aufgewachsen sind.

Dieser Wunsch von Eltern für ihre mehrsprachigen Kinder ist verständlich und zutiefst menschlich, wir sind soziale Wesen, wir suchen Verbindung und Zugehörigkeit.

Und klar: je besser wir eine Sprache beherrschen, je größer unser Wortschatz ist, je vielschichtiger und ausgefeilter unsere Grammatik, desto leichter können wir kommunizieren.

Und natürlich wünschen wir Eltern uns das für unser Kinder. Wir wünschen uns, dass sie sich auch in unserer Sprache leicht und sicher bewegen können. Und wir wünschen uns für sie, dass sie auch in unserem Land selbstverständlich als zugehörig angesehen und angenommen werden.

Mehrsprachigkeit ist aber so viel mehr

Gleichzeitig ist es hoch an der Zeit, dass wir unseren Blick und unseren Geist weiten, dass wir nicht immer diesem Ideal nacheifern und diese Erwartung nicht an unsere Kinder stellen. Denn: jede Sprache ist ein Geschenk, jeder Akzent ein Zeichen dafür, dass in diesem Gehirn so viel mehr abgespeichert ist, so viel mehr sprachliche Kompetenz vorhanden ist.

Es ist Zeit, dass wir das alle mehr feiern. Gemeinsam sind wir in der Lage, das auch so nach außen zu tragen und dieses Bild des idealen Sprechers ins richtige Licht zu rücken. Denn im Endeffekt geht es, wie meist im Leben, um Verbindung. Und für die braucht es keine akzentfreie, makellose Sprache, sondern den Mut sich zu öffnen, zu zeigen und zu verbinden.

*Den Begriff ‚Muttersprache‘ habe ich bewusst gewählt und lasse ihn hier auch bewusst so stehen. Hier soll es nicht darum gehen, die Begrifflichkeit zu diskutieren, sondern eine bestimmte Art von Sprachkompetenz in ein neues Licht zu rücken.

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